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Die wohl berühmteste Berliner Operette

1893 engagierte der Theaterdirektor Jacques Glück Paul Lincke an sein Apollo-Theater, damals eine der wichtigsten Varieté-Bühnen Berlins mit einem bunten Programm. Zu einem ganzen Strauss von Attraktionen gehörte bald ein Einakter, der zunehmend an Beliebtheit gewann. Die Programmhefte kündigten diese Einakter häufig als "burlesk-phantastische Ausstattungs-Operette" an, in Wahrheit waren sie oft nicht viel mehr als eine Posse mit Gesang.

Mit ihrer entsprechend gestalteten Operette VENUS AUF ERDEN erlebten Lincke und Bolten-Baeckers 1897 den ersten grossen Triumpf. Schon hier wurde ein Berliner in himmlische Sphären versetzt, auch wenn dabei Offenbachs ORPHEUS ganz klar Pate stand.

Als Lincke nach seinem knapp zweijährigen Pariser Zwischenspiel im Februar 1899 nach Berlin zurückkam, war die Zeit knapp, denn schon am 1. Mai sollte im Apollo-Theater die Premiere von FRAU LUNA sein, um dem konkurrierenden Metropol-Theater zuvor zu kommen. Die Idee, Menschen auf den Mond zu schicken und dort mit den Mondbewohnern zusammentreffen zu lassen, war nicht neu: Schon 1865 erschien Jules Vernes DE LA TERRE A LA LUNE (VON DER ERDE ZUM MOND) und 1875 machte Jacques Offenbach in Paris erstmalig eine Operette daraus. Lincke und Bolten-Baeckers bedienten sich gerne dieser Thematik für ihr neustes Werk, in das sie auch bekannte Nummern aus früheren Kompositionen einbauten. Dem Publikum war es egal, es feierte FRAU LUNA noch stürmischer als VENUS AUF ERDEN, und selbst ein so bedeutender Kritiker wie Alfred Kerr rühmte den Walzer "Schlösser, die im Monde liegen".

In einer schnelllebigen Zeit mit immer neuen technischen Innovationen hatten Lincke und sein Librettist mit FRAU LUNA das Lebensgefühl der Berliner so genau getroffen wie Johann Strauss ein Vierteljahrhundert zuvor mit der FLEDERMAUS dasjenige der Wiener.

Bemerkenswert ist, dass viele Nummern, für die FRAU LUNA heute berühmt ist, in dieser einaktigen Urfassung noch gar nicht enthalten waren. Zwar sang die Witwe Pusebach schon ihr "O Theophil", aber die berühmte "Berliner Luft" komponierte Paul Lincke erst 1904 für eine Operette gleichen Namens, aus der auch das Lied "Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe" stammt. Beide Nummern nahm Lincke Anfang der 1920er Jahre in seine abendfüllende Version der FRAU LUNA auf.

Otto Schneidereit (1915–1978) war der "Mister Operette" in der DDR. Er übernahm die Aufgabe, die wichtigste aller Berliner Operetten, die in keiner Weise dem sozialistischen Kunstideal entsprach, durch die Erstellung einer eigenen Fassung (1957) für die DDR zu "retten". Er strich anrüchige Textpassagen und tauschte einige Nummern aus. Bei dieser Gelegenheit gelang es ihm, die dramaturgischen Schwächen der abendfüllenden Versionen der 1920er und 1940er Jahre auszumerzen. Schneidereit entschied sich dafür, die ganze utopische Mondfahrt Steppkes als nicht real, sondern lediglich als Traum darzustellen. Darin begegnet Steppke auf dem Mond lauter Gestalten, die er vorher schon auf der Erde erlebt hat, wenn auch in leicht veränderter Gestalt. Die Idee zu dieser Figuren-Spiegelung kam Schneidereit vielleicht durch die Kenntnis des Musicals DER ZAUBERER VON OZ von Harold Arlen (1942), wo aus Dorothys Tante Em die gute Hexe des Nordens und aus ihrer bösen Nachbarin Miss Almira Gulch die böse Hexe des Westens wird. Ein gut bewährtes Prinzip also.

Bei all den Veränderungen, die FRAU LUNA im Verlaufe der Jahre erfahren hat, bewahrt dieses Werk seine einmalige Ausstrahlung. Ganz nach Paul Linckes oberster Maxime unterhält und amüsiert diese Berliner Operette mit seiner phantastischen Geschichte und der mitreissenden Musik das Publikum bis heute.

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Die Luftschifffahrt um 1900

Otto Schneidereit hat in seiner Paul-Lincke-Biografie darauf hingewiesen, dass sich die damalige Berliner Sternwarte nahe beim Apollo-Theater befand. Und er fuhr fort: «Auf noch mehr Interesse stiess in der Öffentlichkeit alles, was mit der Aeronautik zu tun hatte, mit der Kunst der Luftschifffahrt. Es ist Bolton-Baeckers’ Verdienst, dieses aktuelle Moment innerhalb einer Bühnenhandlung in die Operette eingeführt zu haben. Er war darin nicht nur aktuell; er griff hier, wenn auch freilich auf sehr simple Weise, weit in die Zukunft.

Obwohl das Fliegen ein uralter Traum der Menschheit ist, war der Ballon, anfangs ein Heissluftballon, erst rund 115 Jahre vor der Niederschrift des Librettos erfunden worden, und zwar in Frankreich. Annähernd 50 Jahre zurück lagen die ersten Versuche mit einem lenkbaren Luftschiff. Zwei derartige Vehikel, das des Berliner Buchhändlers Dr. Wölfert und jenes des ungarischen Holzhändlers David Schwarz, stürzten 1897 über Berlin ab. Ein Jahr zuvor war Otto Lilienthal mit seinem Gleitflieger tödlich verunglückt.»

Und weiter: »Das Jahr 1897 … mutet wie ein Unglücksjahr der Aeronautik an, denn im Juli stieg der schwedische Ingenieur Andrée mit einem Ballon auf, um den Nordpol zu erreichen. Er blieb verschollen (man fand ihn 33 Jahre später im Eis). Aber bereits 1898 war Paul Lincke in Paris Augenzeuge, als Santos Dumont mit einem selbstgebauten Luftschiff den Eifelturm umkreiste und dadurch einen Preis von 500'000 Francs gewann.

Dazu war Bolten-Baeckers im Begriff, ein passionierter Freiballonfahrer zu werden».

Die ersten Luftschiffe des Grafen Zeppelin stiegen übrigens am 2. Juli 1900 in den Himmel auf. Von 1909 an bis in die 1930er Jahre hinein kamen die Zeppeline zu regelmässigem Einsatz.